Schwäb.Gmünd, 5. Juni 1947
Meine liebe Nichte Clara!
Deine große Liebe und Aufmerksamkeit veran-
laßt mich, Dir wiederum einige Zeilen zu über-
senden. Am 30. Mai gelangte Dein liebes Paket in
unsere Hände. Wie erstaunt und überaus
glücklich waren wir, als wir die schönen und
nützlichen Gaben nacheinander dem Paket
entnehmen durften. Du hättest unsere Freude
sehen sollen! So groß unsere Freude, so groß ist
aber auch unsere Dankbarkeit. Von ganzem
Herzen übermitteln wir Dir unsern aufrich-
tigsten Dank. Leider können wir Dir augen-
blicklich unsern Dank nur mit dürren Worten
abstatten, gebe Gott, daß es uns noch möglich
sein wird auch Dir mal eine Freude machen
zu dürfen.
Dank aber auch für deinen lieben Brief.
Unser beider Gesundheit leidet natürlich immer
mehr Not, je mehr wir entbehren müssen.
Die augenblickliche Ernährungslage ist ja
katastrophal. Ihr drüben habt wohl keine
rechte Vorstellung davon, wie es ist, wenn man
hungert und manchmal tatsächlich vor dem
Nichts steht. Wie entbehren wir nur das Brot,
mit dem man doch manche Lücken hat aus-
füllen können. Kaum reicht es eine Schnitte
mit in die Schule nehmen zu können und
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manchmal schwindelt mir vor der Klasse
so, daß ich befürchte umzusinken. Und wie
mir in der Schule, so ergeht es Tante bei der häus-
lichen Arbeit. Und doch wollen wir nicht nur
klagen, (öffentlich meiden wir es, so gut wir kön-
nen) Gott sendet uns immer wieder Menschen
die, wenn die Not am größten, uns mit einer Gabe
darüber weghelfen. Es ist uns Beiden eben
nicht gegeben, da und dort herum zu betteln
und herum zu reisen und mit frömmelndem
Augenaufschlag die Herzen anderer zu rühren.
Ausdrücklich und aus aufrichtigem Herzen kom-
mend möchte ich auch hier erwähnen, daß
ich hoch und dankbar schätze, welch große
Hilfe uns von amerikanischer Seite zuteil wird,
denn offen gestanden nicht alle "Volksgenossen"
haben diese Hilfe verdient. Um nur ein Bei-
spiel anzuführen: Wie Gott entfremdet hat
ein großer Teil des deutschen Volkes in den ver-
gangenen Jahren gelebt, nach allem hat man
gefragt, nur nach ihm nicht. Jedem Verbrecher
in Parteiuniform musste man seine Reverenz
erweisen, scheel und verachtend wurde man
angesehen, wenn man noch zur Kirche ging.
Ich ließ mich allerdings nie davon abhalten
Sonntag für Sonntag den Gottesdienst zu besuchen.
Ich war viele Jahre Mitglied des Kirchengemein-
derats und Abgeordneter für den Bezirkskir-
chentag und erteile jetzt 50 Jahre den
evangelischen Religionsunterricht der Schule.
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Leider haben wir kein geeignetes Bild von uns,
um dir Familie Haller vorstellen zu können.
Nehme bitte mal mit diesen Paßbildern vorlieb,
deren Aufnahme allerdings schon etliche Jahre
zurückliegt, wo wir den Leibriemen noch nicht
so eng zu schnallen brauchten. Abgenommen
haben wir Beide schon über 40 Pfund.
Wie nett wäre es gewesen, wenn wir uns auch ein-
mal von Angesicht zu Angesicht hätten kennen-
lernen können. Auch von Dir können wir uns
kein Bild machen. Ich habe allerdings ein Bild
von Dir vor mir, auf dem Du aber nicht genau
zu erkennen bist. Es ist das Bild von der Beerdi-
gung Deines lieben Mannes. Daß es Dir den Um-
ständen entsprechend gut geht, freut uns sehr,
doch bedauern wir, daß Du Dich persönlich noch so
plagen mußt. Hoffentlich wird es jetzt besser wer-
den, nachdem dein Sohn mit dem Studium
fertig ist. Übrigens möchten wir Dir und ihm
von ganzem Herzen zu seinem erfolgreichen
Abschluß seines Studiums gratulieren und
ihm für sein schönes Amt Gottes Segen wün-
schen. Grüße ihn bitte bei Gelegenheit herzlich
von uns. Die amerikanischen Gottesdienste höre
ich öfters mit an.
Indem ich Dir für all uns erwiesene Liebe und
Aufmerksamkeit nochmals innigen Dank sage
bin ich mit recht herzlichen Grüßen
Dein Onkel
G. Haller
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G. Haller, uncle of Clara sent his and his wife's thank for a package of goods she sent. He also congratulated her and her son for him successfully finishing his studies.
He talked a bit about their situation and how they have little to eat (they both lost 40 pounds since the passport photos, which were many years old that he sent with the letter). He was a teacher at school, giving classes in evangelical religion for over 50 years. He wrote that he was so hungry he sometimes felt dizzy during classes, as if he'd lose conciousness at any time - same for his wife when doing house work. He was also active in the leadership of the local church. Talked about how Germany was quite anti-christian during Nazi times and people looked down on him for going to church.
He was somewhat sad that they had no chance to see each other face to face, therefore the passport photos (which were all he had at the time, and couldn't afford newer and better ones). Apparently he had a picture of Clara's husband's funeral on which he saw her, even if rather hazy (in the background or something like that)
I might just do a complete translation later, but that's the gist of the first three pages.
I guess page 4 is written by somebody else, probably Clara's aunt. It's smaller, but at a glance it should be a relatively good specimen of that script. Will take a look at it later.